Mark Bauerlein, Autor des Buches The Dumbest Generation, hat mit seinem Aufsatz Online Literacy Is a Lesser Kind einige Aufmerksamkeit erregt. Darin zieht er heftig über die heutige Jugend her und stellt die These auf, dass am Computer gelesene Texte anders gelesen werden. Er beruft sich auf eine Studie von Jakob Nielsen, die durch das Beobachten von Augenbewegungen beim Surfen herausgefunden hat, dass viele User nicht allen Text auf einer Seite lesen, sondern dass die Konzentration gegen Ende immer mehr nachlässt. Ein paar Bilder zeigen dieses von ihm so genannte F-Muster anschaulich:
Diese Studie hat natürlich Auswirkungen auf die Darstellung von Geschichte im Internet. Langer Text ist das Medium der Geschichtswissenschaften – wenn ihn allerdings keiner richtig liest, ist das bemerkenswert. Daher hier ein paar Thesen zum F-Muster:
1) Das Lesen am Bildschirm ist anstrengender als das Lesen von Papier. Längeres Arbeiten am Monitor ist anstrengend für die Augen und selbst der beste TFT nützt da nichts. Bei den in der Geschichtswissenschaft verbreiteten PDFs stört außerdem auch der weiße Hintergrund, der auf einem Monitor richtig in die Augen strahlt.
2) Ein Buch ist reiner Text, Webseiten besitzen häufig sehr ablenkende Element. Bunte, blinkende Bannern, Animationen, Werbung und Navigationselemente stören den Lesefluss. Werbebanner sind sogar häufig absichtlich so gestaltet, dass sie die Aufmerksamkeit des Lesers auf sich ziehen. Wenn plötzlich eine riesige Layerwerbung aufpoppt, ist es mit dem Lesefluss erstmal vorbei.
3) Webbrowser neigen dazu, die Aufmerksamkeit abzulenken. Man hat immer mehrere Tabs offen, Katzenfotos sind im Zweifelsfall doch interessanter als der trockene Text und ansonsten klingelt das Postfach mit ablenkenden E-Mails oder ICQ piept.
4) Viele Texte im Internet sind einfach schlecht geschrieben. Der Artikel von Bauerlein ist ein gutes Beispiel: Am Anfang wird die sehr interessante Studie behandelt, aber dann verkommt der Artikel zu einer schlechten Jugendkritik. Anfangs liest man also genau, am Ende überfliegt man ihn nur noch – eben im F-Muster.
5) Die Informationsüberflutung im Internet kann man nur bewältigen, indem man selektiv liest und vieles überfliegt. Alleine um eine Seite wie Spiegel.de wirklich zu lesen, müsste man mehrere Stunden pro Tag investieren. So viel Zeit hat kein Mensch zur Verfügung. Daher werden viele Artikel angelesen, aber uninteressante dann schnell nur noch überflogen.
6) Man liest generell mehr. In der Prä-Internetära hat ein normaler Mensch vielleicht eine Zeitung gelesen und abends die Tagesschau geguckt. Heute ist es problemlos möglich, den Spiegel, die New York Times, die Süddeutsche und die Zeit täglich anzusurfen. Auch hier neigt man eher zum Anlesen und nicht zum intensiven Studium eines Textes.
7) Gerade für deutsche User gibt es häufig den Sprachsprung – wir lesen einfach mehr englische Texte als früher. Plötzlich bemerkt man, dass man auch auf spanischen oder russischen Seiten navigieren kann, ohne viel vom Text zu verstehen. Wer einmal blind navigiert, tut es auch auf deutschen Seiten.
8 ) Querlesen ist auch nichts schlimmes, sondern eine wichtige Technik, die einem sogar im Studium ausdrücklich empfohlen wird.
Weiterhin könnte es sich lohnen, die Studie einmal kritisch zu untersuchen. So wurden z.B. alle Pageviews, die länger als 10 Minuten dauerten, ausgeschlossen, weil angeblich der Browser offen gelassen wurde während der User etwas anderes tat. Das könnten aber auch genau die Leute gewesen sein, die einen Text genau lesen.
Weiterhin muss man zwischen normalen Lesern und wissenschaftlichen Lesern unterscheiden. Ein Wissenschaftler, der ein Dokument für eine Arbeit benötigt, wird es auch am Bildschirm ausführlich lesen. Daher die ganzen Dissertationen, Magisterarbeiten oder Aufsätze auch im Internet ihren Platz – da geht es um Zugänglichkeit und nicht um ein verändertes Leseverhalten. Gravierender ist die Studie allerdings für Angebote, die sich an Laien wenden. Hier stellt sich die Frage, wie man ein breites Publikum erreicht, wenn das grundliegende Werkzeug der Wissensvermittlung anders funktioniert als gedacht.